«Oh, wer bist du denn?», fragte der Schnee die Rose, als seine Flocken langsam auf den Garten hinabtanzten.

«Ich bin die Rose!», sagte die Rose stolz.
«Und wer bist du? Dich habe ich noch nie gesehen!», fragte sie nun ihrerseits den Schnee.

«Ich bin der Schnee!», flüsterte dieser leise und hüllte die Rose mit seinen Flocken ein.

«Schnee? Brrr… du bist aber ganz schön kalt! Woher kommst du denn so plötzlich?», sprach die Rose mit einer warmen dunklen Stimme.

«Ich komme von weit her… und dich habe ich auch noch nie gesehen», sagte der Schnee zur Rose. «Du bist wunderschön…», fuhr er fort, «… dieses Rot!
… und deine Form… diese Knospe… die Blätter…
… elegant… exquisit!»

«Du bist auch nicht ohne, Schnee, dein Weiss gibt einen schönen Kontrast zu meinem Rot! Toll! Richtig exotisch!», freute sich die Rose und setzte sich in Pose.
«Bin ich nicht schön mit diesem weissen Mantel?», fragte sie die Sträucher in der Nähe.

Doch niemand antwortete.
Alles war still.

In der Zwischenzeit wurde es der Rose immer kälter. Sie wollte aber nicht unhöflich sein.
«Es ist nett, dass du mich besuchen kommst, aber könntest du nicht etwas wärmer sein?»
Die Stimme der Rose hörte sich schon leicht krächzend an.
«Ich hoffe, ich erkälte mich nicht.»

«Wärmer? Was ist das?», flüsterte der weisse Schnee, ganz versunken in die Umarmung der roten Rose.

«Du weißt nicht, was warm ist? Du bist aber komisch!», meinte die Rose nun etwas nachdenklich geworden.

Die Rose war aber nicht nur schön, und hatte ein grosses warmes Herz, sie hatte auch Verstand und liebte das Philosophieren.

«Warm ist …», sie stockte. Ja, wie definiert man warm?

«Warm ist…», setzte sie erneut an, «das Gegenteil von dir. Du bist kalt.»

«Ich bin kalt?», fragte der Schnee. «Ist das gut oder schlecht?»

«Naja», sagte die Rose, «ich hätte dich gerne warm. Dein Weiss ist schön, aber kalt!»

«Ich werde gerne etwas wärmer, wenn ich dir einen Gefallen tun kann», säuselte der weisse kalte Schnee, ganz fasziniert von der schönen roten warmen Rose.

Und die Rose dachte nach, wie sie dem Schnee erklären könnte, was warm ist.

«Warm ist… wie meine rote Farbe… wie ich!», sagte die Rose, mit einer nun schon etwas belegten Stimme.

«Deine rote Farbe, deine Form. Ich möchte gerne so sein, wie du!»
Der Schnee betrachtete traurig und etwas frustriert sein Weiss und sinnierte:
«Ich bin so farblos… habe keine Form… immer muss ich mich der Umgebung anpassen… und bin abhängig von anderen, der Temperatur, den Wolken, dem Wind…
richtig langweilig und so was von uninspiriert

«Dein Weiss finde ich schön, und wie du den Garten mit deiner weichen weissen Decke schön kleidest! Aber warm solltest du sein!», sagte die Rose, nun schon zitternd vor Kälte.

Da fiel es ihr ein.
«Warm ist wie der Sommer!»

«Sommer?»
Der Schnee fiel aus allen Wolken.
«Aber ich bin der Gesandte des Winters!»

Beide waren sie nun still geworden, die Rose und der Schnee, die eine vor Kälte, der andere in der Erkenntnis ihrer Gegensätzlichkeit.

Dann, plötzlich, eine Wolkenlücke und die Sonne strahlte in die weisse Pracht und den Garten.

«Ah», sagte die Rose und freute sich über die wärmenden Sonnenstrahlen.

«Ah», seufzte der Schnee und begann zu schmelzen.

 

Ein bisschen später…

«Oh, wie schön! Schau, Mami!»
Ein kleines Mädchen betrachtete voll Freude die rote Rose im weissen Schnee.
«Na so was, eine Rose im Schnee!», wunderte sich die Mutter.

«Sommer und Winter vereint, wie WUNDER-bar!»

 

Sommer und Winter,

das eine und das andere,

sowohl als auch,

beides,

oder doch weder noch?

Was meinst du?

 

Geschichte und Photo: Alexandra Waeber, Dezember 2023