Es war einmal ein wunderschönes Wesen, zart und kräftig, hell und dunkel, stark und weich, warm und kühl, still und klangvoll, transparent und farbig…

Doch das Wesen fühlte sich einsam und deshalb machte es sich auf den Weg, um Freunde zu finden.

Bald schon trifft es auf Menschen. Voller Freude eilt es auf sie zu, und so gross ist seine Begeisterung, endlich Freunde gefunden zu haben, dass das Wesen den Menschen leidenschaftlich um den Hals fällt.

Zugegeben, das war vielleicht etwas ungeschickt von unserem Wesen: die Menschen sind so erschrocken über diese stürmische Begrüssung, dass sie das Wesen abschütteln und das Weite suchen.

«Bitte kommt zurück, ich tue euch doch nichts», ruft das Wesen und schaut den Menschen entgeistert nach.

Nachdenklich macht sich das Wesen wieder auf den Weg und gelobt sich, es beim nächsten Mal besser anzugehen.

Als es wieder auf Menschen trifft, geht es langsam auf sie zu und spricht sie schon von weitem an, um sie dieses Mal nicht zu erschrecken. Höflich erklärt es den Menschen, dass es Freunde sucht. Doch die Menschen schauen es entsetzt an und nehmen Reissaus.

Das Wesen versucht es immer wieder, doch die Menschen wollen von ihm nichts wissen.

Erbost über so viel Unfreundlichkeit der Menschen gerät das Wesen in eine unbändige Wut und verwandelt sich in eine Furie. Es macht hässliche Faxen, bläst sich zu einem Riesen auf, lässt fürchterliche Schreie ertönen…

Doch das war leider auch nicht hilfreich, um Freunde zu finden.

Traurig wandert es in der Welt herum.

Da begegnet es einer Hirschkuh.

«Warum so traurig?»

«Niemand will mich, alle laufen vor mir weg.»

Die Hirschkuh sieht das Wesen lange an, und ihre dunklen Augen sind voll Wärme und Mitgefühl.

«Du heisst Angst, nicht wahr?»

«Ja, woher weißt du das?»

Die Hirschkuh antwortet nicht auf die Frage, sondern fährt fort: «Du weißt, dass du eine Schwester hast?»

Das Wesen namens Angst schaut die Hirschkuh erstaunt an:

«Eine Schwester? Nein, das wusste ich nicht…»
und dann «Wo finde ich sie?»

Die Hirschkuh blickt dem Wesen lange in die Augen.

«Deine Schwester ist in dir, ich sehe sie in deinen Augen. Sie lässt dich grüssen und dir ausrichten, dass sie dich von ganzem Herzen liebt.»

«In mir?Kann ich etwas für sie tun?»

«Gehe wieder zu den Menschen. Suche Menschen, die dir mutig in die Augen schauen, und sie werden auch deine Schwester sehen, und sie werden dich in die Arme schliessen. Und je mehr Menschen euch beide erkennen, desto lebendiger wird deine Schwester. Und eines Tages werdet ihr Hand in Hand gehen.»

«Danke, liebe Hirschkuh.»

Die beiden verabschieden sich und das Wesen namens Angst macht sich freudig auf den Weg, als ihm noch etwas einfällt.

«Warte, liebe Hirschkuh, wie heisst meine Schwester eigentlich?»

Die Hirschkuh sagt: «Weißt du es nicht schon längst?
Sie heisst Liebe».

Geschichte und Photos: Alexandra Waeber, Coach und Naturphilosophin, Januar 2022

Bist du der Angst auch schon begegnet?
Und? Hast du dich getraut, ihr in die Augen zu schauen?
Oder?