«Du siehst das falsch!»

«Was? Ich? DU siehst das falsch!»

«Das ist der Gipfel der Frechheit!»

«Und du hast wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank!»

Die beiden Stühle regen sich immer mehr auf, so dass ihre Metallteile zu glühen beginnen und Funken durch die Luft fliegen… und weshalb sie streiten, gerät immer mehr in den Hintergrund und schliesslich vergessen sie es ganz. Es geht jedem nur noch ums Recht haben.

Die anderen Möbelstücke rund herum reagieren unterschiedlich. Der Tisch versucht zu schlichten: «Aber, aber, meine Herren, beruhigen Sie sich doch. Bleiben Sie friedlich.»

Der Tisch ist ein älteres Stück aus einer Zeit, als das Siezen noch üblich war. Doch die Stühle hören ihn nicht.

Der Teppich unter den Stühlen empört sich: «Hört auf der Stelle auf zu streiten! Das ist ja unerträglich! Und ihr setzt mich mit euren Funken noch in Brand!»

Doch die Stühle hören auch ihn nicht.

Die italienische Stehlampe wurde durch die Stimmen aus ihrer Siesta geweckt und fragt etwas verschlafen: «Porca miseria! Was ist denn da los?»

«Keine Ahnung. Aber es wundert mich nicht, bei ihrer Herkunft, sie haben keine Kultur!», antwortet der grosse goldene Spiegel.

«Was hat denn das mit Herkunft und Kultur zu tun?», fragen die beiden anderen Stühle, die nicht in den Streit involviert sind, irritiert. Obwohl sie nicht am Streit mitmachen, fühlen sie sich solidarisch mit ihren Verwandten.

«Ich bin einig, dass es mit Kultur zu tun hat», meldet sich nun eine edle griechische Vase zu Wort. «Im alten Griechenland meiner Vorfahren war das «Streiten» eine Kunst und wurde gelehrt.»

«Nicht nur bei euch», interveniert der Spiegel, «als ich noch in England war, auch da habe ich erlebt, was echte Streitkultur ist. Wir Engländer lieben das Debattieren.»

«Was? Streiten eine Kunst? Streitkultur? Da lachen ja die Hühner!», protestieren die beiden nicht am Streit beteiligten Stühle. Sie sind sehr stolz auf ihr exquisites modernes Design.

« Oh, mon Dieu, la jeunesse d’aujourd’hui n’a plus de la culture ! », tönt es nun von der älteren französischen Kommode indigniert.

«Oh, mein Gott, die heutige Jugend hat keine Kultur mehr», übersetzt das gelehrte Büchergestell für die anderen, es kennt das französisch-deutsche Wörterbuch in- und auswendig…

«Was Gott mit der Sache zu tun hat ist fragwürdig, doch das mit der Kultur hat was», brummt der grosse Schrank.

Der junge blumige Ohrensessel fragt neugierig: «Lieber Spiegel, liebe Vase, erzählt, was meint ihr mit Streitkultur?»

Der Spiegel, ganz der englische Gentleman, sagt zur Vase: «Nach Ihnen, My Lady, erzählen Sie zuerst.»

Und die Vase freut sich über die aufmerksame Geste und bedankt sich. «Also, meine Lieben, die Streitkultur im alten Griechenland…», fängt sie an mit einer ruhigen Stimme. Die anderen machen es sich bequem. Sogar die beiden Streithähne sind still geworden.

«… also… wo soll ich denn anfangen, denn wie erwähnt, es geht um eine Kunst, Theorie hilft natürlich, doch das Üben ist von zentraler Bedeutung.»

«Da stimme ich Ihnen zu», meldet sich der Spiegel zu Wort, «bei uns in England ist Debattieren sogar ein Volkssport, überall gibt es Debattierclubs.»

«Was ist denn das Wichtigste aus deiner Sicht?» Der Schrank ist eher der pragmatische Typ.

«Naja», fährt die Vase fort, «es beginnt damit, dass wir uns für unser Gegenüber interessieren, für seine resp. ihre Ansichten. Wir bleiben also neugierig und interessiert. Und wir nehmen uns sowohl den Raum, um unseren Standpunkt darzulegen, wie wir auch dem Anderen Raum geben für seinen resp. ihren.»

«Aber wenn ich finde, der andere erzählt wirklich Mist und ich bin überzeugt, dass ich Recht habe?», interveniert einer der Stühle.

«Was?», kontert der andere Stuhl, «Ich soll Mist erzählen! DU hast ein Problem! Du siehst es falsch!»

«Moment», sagt der Spiegel mit lauter Stimme, «wichtig dabei ist, wir akzeptieren die andere Meinung und Position, OHNE unsere eigene aufgeben zu müssen.»

«Ich kann den Stühlen nachfühlen, was mache ich, wenn ich mich über den anderen und seine Meinung so aufrege, dass ich fast platze?», fragt die Lampe.

«Gute Frage!», antwortet die Vase und sie seufzt, bevor sie weiterfährt, «ja, die guten alten Emotionen…», und sie seufzt nochmals, «ja, das war schon im alten Griechenland ein Thema… und da beginnt eben die Kunst…»

«Emotionen!», sagt der Spiegel verächtlich, «lasst die doch aus dem Spiel, es geht doch ums Debattieren, um die Freude am Argumentieren.»

«Du hast gut reden, du hast ja keine Emotionen!», kontert die Lampe.

Das Büchergestell platzt fast vor Wissen und möchte unbedingt etwas loswerden: «Ehmm! Da kann ich etwas dazu sagen: Ich habe ein Buch gelesen über die gewaltfreie Kommunikation. Da steht, dass wir unsere Emotionen verbalisieren sollen…»

«Verbalisieren?», brummt der Schrank, «was heisst das denn nun schon wieder? Rede deutlich!»

«Kann ich das so verstehen, dass man seine Emotionen in Worten ausdrückt, ohne aufzubrausen?», fragt die Vase.

«Genau!»

«Ah, das ist interessant, liebes Büchergestell, ich weiss nicht, ob meine Vorfahren das auch so machten. Eine interessante Idee.»

«Da gibt es noch viel mehr zu erzählen, zur Gewaltfreien Kommunikation…und, lieber Spiegel, ich habe auch ein ausgezeichnetes Buch zur Kunst des Debattierens… ah, und dann habe ich auch ein sehr interessantes Buch über matrilineare Kulturen gelesen, und wie diese mit Meinungsverschiedenheiten umgegangen sind, aber da sind es mehr Annahmen und Hypothesen… und…»

«Stopp! Mir schwirrt der Kopf!», unterbricht die Lampe den Redefluss des Büchergestells.

«Rede so, dass wir dich verstehen können!», brummt der Schrank. Er ist ja der pragmatische Typ.

«Ich habe zwar kein Buch gelesen, aber ich habe in meiner Jugend bei den Indianern gelebt und ganz viel gelernt», meldet sich der Teppich.

«Ah ja?», fragt der eine Stuhl, der sich gerne der New Age-Bewegung angeschlossen hätte.

«Das klingt alles furchtbar spannend», piepst der junge blumige Ohrensessel, «lasst hören.» Und er stellt seine grossen Ohren auf Empfang.

Und das Büchergestell und der Teppich erzählen, die Vase und der Spiegel geben ab und zu einen Kommentar, und die anderen hören zu, stellen Fragen, und alle haben etwas beizutragen aus ihrer Erfahrung, aus ihrem Wissen…

…und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch und erzählen einander Geschichten über das Streiten und Kultur(en)…

Hörst du sie?

Geschichte und Photos: Alexandra Waeber, Oktober 2021