«Ich gehe! Ich will die Welt entdecken! Und ich will unabhängig sein!», tönt es aus dem Bau.

«Komm zurück!»

«Nein, ich gehe!»

Das kleine Kaninchen ist entschlossen. Es schiesst förmlich aus dem Bau und in die grosse weite Welt hinaus… und stösst dabei fast mit der Schildkröte zusammen.

«Oh, pardon, ich habe dich nicht gesehen.»

«Langsam kommt man auch ans Ziel!», brummt die Schildkröte gutmütig, und streckt ihren Kopf wieder aus dem Panzer.

Doch das Kaninchen ist schon weiter gerast und hört sie nicht mehr. Und während es so über die Wiese hoppelt und dabei Luftsprünge macht, und sich immer wieder auch mal schüttelt, lässt es die Anspannung los, die durch die Diskussion mit seiner Familie entstanden war.

(Übrigens: hast du schon mal gesehen, wie sich ein Kaninchen schüttelt? Oder ein Hund, Pferd? Das geht wie eine Welle durch den ganzen Körper. Faszinierend zu sehen! Und gesund! Das Schütteln hilft, sich zu entspannen.)

«Endlich! Nun kann ich endlich tun, was ich will. Niemand, der mir sagt, was ich tun darf und was nicht. Ich allein entscheide. Wow, was für ein Gefühl! Ich bin unabhängig von anderen», jauchzt das Kaninchen und macht nochmals einen Luftsprung.

Nachdem es sich eine Weile ausgetobt hat, hält es ein Moment inne und denkt bei sich: «Was wohl mein Bruder nun macht? Er hat immer so lustige Ideen zum Spielen… aber nein, er ist nun nicht da… und ich habe auch Ideen… und überhaupt macht es Spass, mal allein zu sein… und nun habe ich Hunger… wow, das Gras da sieht lecker aus.»

Das Kaninchen macht sich über das Gras her, es entdeckt immer neue Leckerbissen, und bewegt sich dabei immer weiter weg von seiner vertrauten Umgebung.

«Endlich kann ich mal essen, was ich will und soviel ich will. Und niemand schränkt mich ein und mahnt mich, nicht so viel von dem einen fetten Gras zu essen… Mmhhh… lecker!»

«Und nun bin ich müde… ich lege mich da in die Sonne … auf diese duftige Blumenwiese.»

«Grummel, Grummel…», tönt es aus dem Bauch des Kaninchens.

«Ohhhh, ich habe zu viel gegessen», stöhnt es und streckt sich lang aus, um dem dicken Bauch Platz zu verschaffen.

Etwas summt in der Nähe, eine Biene ist daran, Nektar zu sammeln.

«Guten Tag, Biene!», sagt das Kaninchen freundlich.

«Na, wer bist denn du? Und was machst du da?», erwidert die Biene fragend und setzt sich einen Augenblick auf das Blütenblatt. Sie ist eine junge Biene und hat noch nie ein Kaninchen gesehen.

«Ich bin ein Kaninchen. Und ich geniesse meine Freiheit! Endlich mal ohne Familie. Niemand, der was von mir will.

«Oh…», sagt die kleine Biene, «ohne Familie? Das kann ich mir gar nicht vorstellen.» Und nach einer Weile ergänzt sie: «Fühlst du dich nicht sehr allein?»

Doch, bevor das Kaninchen antworten kann, tönt es von einer Nachbarblume: «Allein oder mit Familie ist doch nicht die Frage». Ein Zitronenfalter breitet seine Flügel aus und tankt Sonnenwärme. «Geniesse das Schöne, die Leichtigkeit im Leben und den steten Wandel.»

«Allein? Gemeinschaft ist die Lösung!», tönt es von einem Ameisenteam, das in der Nähe einen grossen Brocken gefunden hat und ihn nun zum Nest bringen will. Die einen ziehen vorne, die anderen schieben hinten. «Genau, gemeinsam sind wir stark.» «Der Teamspirit spornt uns an und ist auch unsere Belohnung: Ein wunderbares Gemeinschaftsgefühl, das möchten wir nicht missen!»

«Wage den Sprung ins Neue und Unbekannte. So kommst du weiter im Leben», zirpt die Heuschrecke, Sie macht dabei einen eleganten Sprung und landet direkt neben der Nase des Kaninchens. «Nur wenn du auch Risiken eingehst, kannst du deine Potenziale weiterentwickeln.» Und bevor jemand etwas dazu sagen kann, ist sie schon weg.

Ein Maulwurf streckt gerade den Kopf aus seinem Hügel: «Also, wenn du mich fragst, dann habe ich die beste Lösung gefunden: ich liebe es allein zu sein in meiner unterirdischen Wohnung. Wenn ich schlechte Laune habe, dann muss ich nicht Rücksicht nehmen. Und wenn ich Gesellschaft will, dann komme ich heraus.»

«Wie auch immer, wir alle sind Teil eines Ganzen!». Eine ältere Biene hat sich dazu gesellt. «Komm, Kleine», sagt sie freundlich zur kleinen Biene, «lass uns weitermachen. Es wartet eine süsse Belohnung auf uns.» Und sie streicht der kleinen Biene liebevoll über den Rücken.

Das kleine Kaninchen erinnert sich nun an seine Mutter, und wie sie miteinander kuscheln. Es wird etwas wehmütig bei der Erinnerung. Es schüttelt sich und sagt zu sich: «Aber nein, ich will jetzt nicht an meine Familie denken, ich will unabhängig sein. Ich will entdecken, was ich allein kann.»

Das Kaninchen geht nachdenklich weiter.

Geschichte und Photos: Alexandra Waeber, Juli 2021

 

Na? Was hat dich an der Geschichte berührt?
Was meinst du? Wie geht die Geschichte weiter? Möchtest du ein Happy End?
Und was wäre für dich das Happy End?

Dass das Kaninchen sich der Vorzüge seiner Familie erinnert und welchen Wert die Gemeinschaft hat, und nach Hause zurückkehrt, wo es liebevoll von seiner Familie begrüsst wird?

Oder dass es mutig seine eigene Reise fortsetzt und Abenteuer erlebt, die es herausfordern, aber auch stärker machen, so dass es seine Einzigartigkeit entdeckt?

Oder beides?

Oder keines von beiden? Und geht es dir gar nicht um ein Happy End, sondern um was anderes?

Und wenn das Kaninchen eine Metapher für dich ist? Wie sieht deine Geschichte aus? Und wie geht deine Geschichte weiter?

Ich wünsche dir viele gute Ideen.