«Der Zauber des Neuen», gurrt die Taube verträumt, während sie auf einem Palmwedel sitzend über das ägyptische Meer blickt, Richtung Horizont, wo bald die Sonne aufgehen wird.

Ein kleiner Spatz, der im Busch nebendran zusammen mit seiner Grossfamilie die Nacht verbracht hat, öffnet die Augen verschlafen: «Was sagst du?», piepst er.

«Der Zauber des Neuen», wiederholt die Taube.

Der Spatz schüttelt sich um wach zu werden: «Was meinst du damit?», piepst er.

«Die aufgehende Sonne, schau doch!», erwidert die Taube.

Der kleine Spatz blinzelt, schaut in Richtung Horizont und wirft der Taube einen verständnislosen Blick zu: «Ich verstehe immer noch nicht, das ist doch einfach die Sonne und sie kommt doch jeden Morgen… es ist doch immer das Gleiche… was ist da neu?»

«Für mich ist es jeden Tag wie ein Wunder, dass sie kommt, die Sonne, nicht selbstverständlich… immer wieder anders… immer wieder neu… jeden Tag ein neues Wunder.», philosophiert die Taube.

«…und schau wie zauberhaft, zuerst schimmert das Wasser rotgolden… dann wird der Himmel und die kleinen Wölkchen rosafarben… und dann… schau, ein winzig kleines glänzendes Pünktchen am Horizont… nun wird es immer grösser, schau, … nun ist sie bald schon ganz rund…», schwärmt die Taube, «…ein Wunder…egal wie oft ich es sehe, es bleibt für mich magisch… der Zauber des Neuen…».

«Das ist mir zu weit hergeholt, zu romantisch» piepst der kleine Spatz, «ich bin froh, wenn sie endlich da ist und wärmt… ich verstehe nicht, wieso sie am Abend überhaupt verschwindet… dann wird es dunkel und kalt… dieses Kommen und Gehen… dafür habe ich kein Verständnis…», und er schliesst wieder die Augen um noch etwas weiter zu schlafen.

Eine zarte Bachstelze, die zugehört hat, sagt bewundernd zur Taube: «Oh, so schön, wie du das beschreibst.».

Ein Ibis, der am Strand im seichten Wasser stelzt, schüttelt den Kopf: «Diese Spatzen, Ignoranten, sind nur interessiert an Futter, haben keinen Sinn für Schönheit.»

Nun meldet sich eine Eidechse, die den Kopf vorsichtig aus ihrer Höhle streckt: «Also in einem bin ich einig mit dem Spatz: ich bin froh, dass die Sonne wieder da ist und den Sand wärmt…»

«Ich möchte doch bitte klarstellen, dass wir Spatzen nicht alle Ignoranten sind: ich finde den Sonnenaufgang auch wunderschön», sagt ein etwas älterer Spatz, «aber neu? es ist ja jeden Tag das Gleiche! Für mich ist neu etwas wirklich Neues, das ich noch nie gesehen habe.»

Zwei Nebelkrähen streiten sich um den Platz auf der Palme. Eine gewinnt, die andere fliegt davon und sucht sich einen Platz auf einer anderen Palme.

«Es ist doch ganz einfach: Alles ist Veränderung, nichts bleibt gleich.», krächzt die, die den Platz gewonnen hat.

«Ach du Besserwisser, das ist doch sonnenklar, das weiss doch jedes Krähenkind!», tönt es beleidigt von der anderen, die verloren hat.

«Ich bleibe dabei», sagt der ältere Spatz, «für mich ist neu etwas wirklich Neues, das ich noch nie gesehen habe, wie zum Beispiel ein neues Spatzenbaby, oder eine neue Futterstelle.»

Da meldet sich der weise Ibis wieder zu Wort:
«Das Neue zu sehen und als neu zu erkennen ist keine Kunst, aber etwas, das jeden Tag da ist, wieder bewusst wahrzunehmen als immer wieder etwas Neues und darin den Zauber zu sehen, das ist Weisheit!».

Geschichte und Fotos: Alexandra Waeber, Februar 2021