«Verflixt und zugenäht!», schimpfte ich und musste mich hinsetzen.

Mein kleiner Zeh war mit dem Rollkoffer zusammengeprallt, genauer gesagt, mit einem der kleinen harten Rädchen, das so unschuldig aus dem einen Ende des Koffers ragt …

«Aua!»

Es tat fürchterlich weh.

«Das auch noch!», empörte ich mich.

Ich war frustriert. Nein, stinkesauer!

Du kennst das vielleicht auch: da läuft alles rund, du bist gut drauf, voller Elan und Begeisterung, fühlst dich dynamisch und kreativ (so wie es in den Stelleninseraten gefordert wird: «Wir suchen eine dynamische und innovative Persönlichkeit…»),
und du bist voll in Fahrt, bist am Umsetzen, voll Tatendrang und im MacherInnenmodus (genau wie es doch gesucht wird: «Sind Sie initiativ und umsetzungsstark? Dann sind Sie die/der Richtige für unsere Firma…»),
und dann: WUMMMM… Vollbremsung! volle Kanne ausgebremst!
Du weißt nicht, wie dir geschieht.
Eben noch in voller Fahrt … und dann: ausgebremst! Vollstopp!

Grosser Frust: «Wieso passiert mir dies jetzt? Es lief doch alles so gut, warum, warum, warum?»
Dann dämmert es langsam: «Warte mal, das erinnert mich an etwas…»
Und dann: «Ist das ein altes Muster?»

Und was, wenn es ein altes Muster wäre? Dann hätte man zwar einen Übeltäter identifiziert und könnte jemand die Schuld geben. Andererseits, wenn es ein altes Muster von mir wäre, dann müsste ich mich ja darum kümmern…

Frust! Grosser Frust! Sehr grosser Frust!

Nicht jetzt! Das habe ich doch hinter mir. Da habe ich doch daran «gearbeitet». Ich bin doch eine «gefestigte Persönlichkeit, souverän, die alles im Griff hat…»

Ich war sauer auf die Welt, inklusive die geistige Welt…

«Was soll das?» schimpfte ich, «sprecht mit mir, gebt mir klare Zeichen, was diese Vollbremsung zu bedeuten hat!»

Und dann geschah das mit dem Zeh…

Eine Woche später schmerzte mich der Zeh immer noch, respektive noch mehr, vor allem, sobald ich Schuhe tragen sollte. Ich probierte alle meine Sneakers aus, aber keiner passte. Das erinnerte mich irgendwie an Aschenputtel: war ich die böse Stiefschwester?

Nein, so schnell gebe ich nicht auf, es musste doch in meiner Schuhsammlung ein paar Schuhe geben, die ich schmerzfrei tragen konnte. Ich wühlte in meinem Schrank und dann die Entdeckung: meine geliebten rosa Turnschuhe aus den 90er-Jahren!

Ich war gerührt. Erinnerungen kamen hoch. Erinnerungen an Velotouren (mit einem richtigen Fahrrad, nein, kein e-Bike), ligurische Küste, Meer, schmale Küstenstreifen, Berge, die Anstrengung, wenn es den Hügel hoch ging, und die Freude über die Aussicht, wenn ich es geschafft hatte, Pause, Waldboden, Sonne und der angenehme Schatten unter den Bäumen, und dann die flotte Fahrt runter… Tempi passati. Aber schön war’s. Und meine rosa Turnschuhe waren immer dabei. Schön. Bequem. Treu.

Nun hielt ich sie in der Hand, die rosa Farbe – meine Lieblingsfarbe damals – immer noch sichtbar, aber abgewetzt, abgeblättert, die Sohle durchgelaufen, schäbig sahen sie aus… i

Ich probierte sie an, und oh Wunder, schmerzfrei, der kleine Zeh fühlte sich offensichtlich heimisch in der vertrauten Umgebung. Das waren die Schuhe für die nächsten 2 Wochen. Die Einzigen.

In der Zwischenzeit rätselte ich an dem alten Muster herum. Ich hatte mich wieder gefasst nach der Vollbremsung, hatte wieder Anlauf genommen, man gibt ja nicht gleich auf, zeigt sich ausdauernd («Wir suchen Persönlichkeit mit Durchhaltevermögen…» heisst es doch so schön im Stelleninserat). Als Coach bin ich geübt im Umgang mit alten Mustern… zumindest bei meinen KlientInnen. Doch bei den eigenen Mustern fehlt uns ja die Aussenperspektive.

Ich fragte mich immer wieder, war es ein Zufall oder hatte es System? War es ein altes Muster oder bildete ich mir das nur ein?

Eine Kollegin riet mir, in die Beobachterposition zu gehen, ich solle doch einfach beobachten und wahrnehmen, und wenn es ein altes Muster wäre, es würdigen und dann einfach loslassen…

Einfach beobachten, würdigen und loslassen.

Wie alte Schuhe.

Moment mal: alte Schuhe? Meine alten geliebten rosa Turnschuhe!

Die hatte ich doch auch vergessen und dann sind sie plötzlich wieder aufgetaucht.
Vertraut.
Bequem durch das viele Tragen, sehr bequem sogar.

Und doch nicht mehr zeitgemäss: durchgelaufene Sohlen, verwitterte Oberfläche, nicht mehr wasserdicht. Ausgelatscht.

Wie das alte Muster.

Vergessen und dann plötzlich wieder aufgetaucht.
Vertraut.
Bequem durch das «viele Tragen», sehr bequem sogar.

Und doch nicht mehr zeitgemäss. Ausgelatscht.

War das nicht das klare Zeichen, um das ich gebeten hatte?

Ich bekam einen Lachanfall. 

Epilog

Meinem Zeh geht es besser. Ich kann wieder meine normalen Schuhe tragen. Ab und zu spüre ich den Zeh noch und dann muss ich lächeln.

Meine alten Turnschuhe, die habe ich nun losgelassen, sie sind im Schuh-Himmel.
Ich habe sie nochmals getragen, ich war dankbar für das Vertraute und Bequeme, ich habe mich an die schöne Zeit erinnert, die wir zusammen verbracht haben. Ich habe mich bedankt für ihre Treue, für ihre Dienste, und losgelassen.

Und das Muster, fragst du?

Da bin ich am Beobachten und Wahrnehmen. Ich spüre, dass es Zeit ist zum Loslassen.
Bald.
Ich nehme mir Zeit zum Würdigen was war.

Ich bin ausgebildete Systemische Beraterin nach SySt®. Ich werde meine Situation «aufstellen». Eine Systemische Strukturaufstellung (SySt) bietet eine wunderbare Möglichkeit, so ein Muster durch die transverbale Sprache «sichtbar» zu machen, angemessen zu würdigen und gegebenenfalls aufzulösen.

Beobachten. Wahrnehmen. Würdigen. Loslassen.

In Dankbarkeit.

Geschichte und Photo: Alexandra Waeber, März 2023